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Ein Haus des Adels für Wein, Knechte und Feste

Wie stellt man sich den Zustand eines Hauses vor, das 300 Jahre lange vermietet war ohne dass es jemals von den Eigentümern bewohnt war? Da Mieter im Allgemeinen einen schlechten Ruf haben, ließe sich vermuten, dass der Zustand nicht der Allerbeste sein kann. Was Nachbarn und Neubesitzer Yvonne Eisele und Sven Nolle bei der ersten Begehung des alten Wirtschaftshofes am Rande von Bermatingen vorfanden, war jedoch alles andere als schlecht: ein nahezu tadellos erhaltenes Fachwerk, bauzeitliche Türen, Böden und Stuckverzierungen an den Decken.

Hochwertige Fachwerkbauweise ablesbar

Auch Zimmermeister und staatlich geprüfter Restaurator Sebastian Schmäh riet bei den ersten Vorgesprächen zum Kauf: "Dass es sich bei dem Haus um etwas Besonderes handelt, lässt sich nicht zuletzt an der für damalige Zeiten fortschrittlichen Fachwerkbauweise und den verbauten äußerst hochwertigen Baumaterialien erkennen. Hier lässt sich ganz klar die Handschrift der Reichsabtei Salem ablesen", erklärt Schmäh, dessen Unternehmen nach dem Kauf dann auch mit den Zimmerarbeiten und, in Zusammenarbeit mit der Architektin Corinna Wagner, mit der Projektleitung im Haus beauftragt wurde.

Zur Zeit der Erbauung des Jägerhauses 1721 erlebte die Reichsabtei ihre zweite Blütezeit. Steuererleichterungen brachten den Reichtum zurück, der im vorherigen Jahrhundert aufgrund der Schäden des Dreißigjährigen Krieges und des großen Klosterbrandes 1697 verloren gegangen war. Der prunkvolle Neubau des Klosters war in vollem Gange. Mit überwältigenden Kunstwerken sollten Gläubige vom Glanz Gottes vollends überzeugt werden. Salem erblühte zu dieser Zeit zum südwestdeutschen Zentrum des Rokkokos.

Wein wurde zum wichtigen Wirtschaftsfaktor

In der Region betrieb das Kloster mehrere Wirtschaftshöfe, die mit dem Anbau von Obst und Getreide, der Viehzucht, dem Fischfang, dem Weinanbau und der Forstwirtschaft beauftragt waren. Ursprünglich zur Selbstversorgung des Klosters gegründet, entwickelten sich die Höfe, auch dank Steuerbefreiungen, immer mehr zu wichtigen Wirtschaftsstandorten der Abtei. Der Wein, der im Mittelalter noch als ungenießbar galt, wurde geschmacklich verbessert und so zum weit verbreiteten Genussmittel im gesamten süddeutschen Raum.

Auf diese Entwicklung geht wohl auch der Bau des alten Jägerhauses zurück. Zu dessen Anwesen gehörte damals auch die gegenüberliegende und heute noch gut erhaltene Torkelscheuer. Hier wurden die Trauben vom Leopoldsberg gekeltert, um anschließend im Keller des Jägerhauses bei konstanter Temperatur zur begehrten flüssigen Einnahmequelle des Klosters zu reifen. Trotz der kurzen Wege war die Herstellung von Wein mit sehr viel Handarbeit verbunden, für die es Personal brauchte. Das Jägerhaus war deshalb auch als Unterbringung für die Klosterknechte vorgesehen.

Unterkunft für Knechte und Weinproduktion

Dieser ursprüngliche Zweck des Gebäudes lässt sich an der Aufteilung der Räume heute noch gut erkennen. Wer das Haus durch den vom überdachten Kelleraufgang etwas versteckten Haupteingang betritt, der meint er blicke zurück in die Zeit, als noch die Klosterknechte hier ein und aus gingen. Der lange Gang mit Fachwerkwänden, historischem Terrakottaboden, stuckverzierten Decken und den besonders gestalteten Zargen der Zimmertüren imponiert. Gleich links vor dem ersten Raum, der vermutlich aufgrund der einzigen Heizmöglichkeit im Haus dem Verwalter des Hofes zugeteilt war, deutet die Inschrift am Ofen auf das Baujahr 1721 hin. Über den Gang hinweg erstrecken sich links und rechts sechs gleich große Wohnräume, das Badezimmer, ein Aufgang zum Dachgeschoss und eine Abstellkammer. Die Tür am Ende des Ganges führt zum großzügigen Wohnzimmer mit Essbereich.

In enger Abstimmung mit der Denkmalpflege galt es bei der Sanierung möglichst viel der wertvollen historischen Bausubstanz zu erhalten. Bestes Beispiel dafür ist neben dem Flur das Schlafzimmer. Die hellblaue Wandfarbe, die bei der Sanierung zum Vorschein kam, ist historischen Ursprungs und wird trotz oder vielleicht sogar gerade wegen der unruhigen Struktur erhalten bleiben. Ein unpassender Bodenbelag wurde entfernt und durch historische Bodendielen, die im Dachgeschoss leider nicht vollständig erhalten werden konnten, ersetzt. Der Dachstuhl hingegen musste nur geringfügig ausgebessert werden, sodass der darunter liegende Raum auch als Freizeit- oder Lagerfläche genutzt werden kann. Neben dem Technikraum mit Heizungsanlage hat sich Sven Nolle hier einen lang gehegten Traum einrichten lassen, einen kleinen aber feinen Saunabereich.

Letztes bauzeitliches Fenster als Vorlage für Rekonstruktion

Leider war nur noch ein einziges Fenster aus der Bauzeit erhalten geblieben, als das Bauherrenpaar das Haus übernahm. Alle anderen bauzeitlichen Fenster wurden wahrscheinlich in den 1980er Jahren durch unpassende Konstruktionen ersetzt. Mit dem letzten historischen Fenster als Vorlage und unter Berücksichtigung eines zeitgemäßen Wohnkomforts wurde gemeinsam mit der beauftragten Architektin Corinna Wagner, der Fa. Schmäh und der zuständigen Denkmalpflege ein passendes Fensterkonzept entwickelt. Dabei wurde entschieden den Kämpfer etwas weiter oben anzuordnen.

Natürlich stellt sich hier die Frage, warum der Kämpfer zur Bauzeit weiter unten auf Höhe des oberen Fachwerkriegels angeordnet wurde und warum die Denkmalpflege der Verlegung des Kämpfers zustimmte. Vermutlich hängt dies mit der Körpergröße der Menschen zusammen, für die das Haus vorgesehen war. Wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen, dass deutsche Frauen und Männer zur damaligen Zeit im Schnitt etwa 10 Zentimeter kleiner gewachsen waren. Die Studien legen nahe, dass diese Entwicklung auf die damaligen schwierigeren Lebensstandards zurückzuführen ist. Die bauzeitliche Orientierung des Kämpfers zu ändern, um freie Sicht auf das Weinbergspanorama des Leopoldsberg zu ermöglichen, ist ein Kompromiss zu Gunsten des Wohnkomforts, den die Denkmalpflege in diesem Fall bereit war mitzugehen.

Vom Weinkeller zum Festsaal

Auch die Deckenhöhe von so manchem historischen Kellerraum ist oft auf die Körpergröße unserer Vorfahren zurückzuführen. Im Jägerhaus ist das keineswegs der Fall, denn die Größe und Höhe des beeindruckenden Weinkellers mit Tonnengewölbe erinnert eher an einen Festsaal. Genau als solch einer wurde der Raum auch in den vergangenen Jahren genutzt. Traditionell finden hier die Abschlussveranstaltungen des Bermatinger Weinfestes statt, was unschwer an der noch immer vorhandenen Bühne im Raum zu erkennen ist. 2020 und 2021 wurde coronabedingt kein Weinfest ausgerichtet. Für die Jahre danach hat die Bauherrenfamilie aber bereits zugesagt, dass die Bermatinger im Keller wieder ausgelassen feiern dürfen. Und das, was einst in diesem Keller entstand, wird an solchen Tagen in rauen Mengen fließen: der Leopoldsberger Spätburgunder.

Ausgezeichnet mit dem Denkmalpreis des Landes Baden-Württemberg

Eine ganz besondere Würdigung für die aufwendige Sanierung des ehemaligen Jägerhauses bekam die Bauherrschaft im Sommer 2022.  Der Schwäbische Heimatbund, der Landesverein Badische Heimat und die Wüstenrot Stiftung verliehen Yvonne Eisele und Sven Nolle den Denkmalpreis Baden-Württemberg. Dazu die einhellige Meinung der Jury: "Die Familie [...] erwies sich in ihrer denkmalbezogenen Einstellung als würdige Nachfolgerin in der bedeutenden Haustradition. Ihre Bereitschaft, das Dach nicht auszubauen und das Haus nicht in mehrere Wohnungen aufzuteilen, sondern es trotz des nicht alltäglichen Grundrisses ohne größere Eingriffe selbst zu bewohnen, ermöglichte die Bewahrung der alten Struktur. Sie konnte durch Entfernung von später eingezogenen Wänden im Flur und heutigen Wohnraum sogar wieder deutlicher herausgeschält werden."

Wir gratulieren von Herzen zu dieser besonderen Auszeichnung.

Über den Autor
Oliver Koch-Kinne

Oliver Koch-Kinne

War nach seinem Studium zum Betriebswirt (VWA) im On- und Offline-Marketing verschiedener Industrieunternehmen tätig. Ist seit 2019 Leiter des Online-Marketing-Teams bei PaX und lebt selbst in einem über 300 Jahre alten Baudenkmal. Kein Wunder, dass Ihn das Thema nicht loslässt.