Fluchtfenster, Notausstiegsfenster, zweiter Rettungsweg, Rettungswegfenster, anleiterbare Fenster, alle diese Begriffe stehen für einen Zweck: Im Bedarfsfall so schnell wie möglich sicher das Gebäude durch eine dazu geeignete Öffnung zu verlassen. In Neubauten lassen sich die nach der MBO (Musterbauordnung) erforderlichen Elemente in der Regel ebenso problemlos wie unauffällig integrieren. Auch in Bestandsgebäuden können meist Lösungen gefunden werden, die das Erscheinungsbild nicht stören. Aber was ist mit Baudenkmälern?
Oft sind kleinteilige mehrflügelige oder insgesamt nur kleinformatige Fenster historisch überliefert und sind fester Bestandteil der unter Schutz stehenden Architektur. Hier würde das Erscheinungsbild erheblich gestört, wenn beispielsweise im Gaubenbereich neben vielen kleinteiligen, Sprossenstern plötzlich ein ungeteiltes, der MBO entsprechendes Element verbaut würde. Selbst wenn man eine mögliche Reversibilität solcher Elemente und die klare Ablesbarkeit der nicht bauzeitlichen Veränderung zugrunde legt, so wirken manche Fluchtfenster sehr beeinträchtigend auf das klassische Erscheinungsbild.
Kreative Lösungen sind gefragt
Im Grunde gilt es also, das in der MBO vorgegebene lichte Öffnungsmaß von 0,9 Meter x 1,2 Meter geschickt zu kaschieren. Da diese Maße als Mindestmaße zu verstehen sind und es egal ist, ob die 0,9 Meter in der Breite oder in der Höhe gemessen werden (solange das Gegenmaß von 1,2 Meter erfüllt wird und die Brüstungshöhe nicht mehr als 120 cm beträgt) ist also etwas Spielraum für die Gestaltung gegeben.
Hierzu ist es sinnvoll, wenn sich Architekt, Denkmalschutzbehörde und erfahrene Handwerker gemeinsam mit der anspruchsvollen Aufgabe beschäftigen und eine optimale und denkmalverträgliche Lösung zu finden.
Wie sich gute und kreative Lösungen auffällig in die Fassaden integrieren lassen, zeigen wir Ihnen anhand folgender Beispiele.
Ein Kämpfer nur zum Schein
Die einfachste Lösung eine zu niedrige Öffnungshöhe bei einem klassischen Fenster mit Oberlicht zu vergrößern, ist der sogenannte Scheinkämpfer. Hier wird bei einem zweiflügeligen Stulpfenster in Kämpferhöhe eine waagerechte Sprosse in der Breite des Kämpfers aufgesetzt und im Idealfall noch mit einem passenden Zierprofil versehen.
Scheinbar ein vierflügeliges Fenster
Im Detail ist hier gut der Scheinkämpfer zu erkennen
Ein weiteres Beispiel eines Fensters mit Scheinkämpfer, das sich gut und unauffällig in die historische Substanz einfügt:

Links oben ist ein neues Isolierglasfenster als Fluchtfenster eingesetzt, die anderen drei Fenster sind die historischen Kastenfenster aus der Erbauungszeit des Gebäudes. Im Bereich der Sprossen sind bei genauerer Betrachtung leichte Abweichungen in der Breite zu erkennen. Die senkrechte Trennung des Kämpfers fällt jedoch nur sehr geübten Betrachtern ins Auge.

Fluchtfenster im Giebel
Das nächste Beispiel ist schon etwas anspruchsvoller. Im oberen Giebelbereich des Denkmals sind zwei kleine Fenster, die aufgrund der zu geringen Breite nicht die Anforderungen an einen zweiten Rettungsweg erfüllen.

Intakte und stimmige Fassadenansicht

Rechtes oberes Fluchtfenster
Jetzt in voller Breite: Der linke Stulpflügel ist von außen unsichtbar hinter mit einer zu öffnenden Verbretterung verdeckt. Der Bedarfsflügel ist mit einer Holzfüllung anstelle von einer Verglasung verschlossen, damit man von innen bei geschlossener Verbretterung nicht auf das Holz schauen muss. Sehr gute und durchdachte Lösung als Ergebnis gemeinsamer Bestrebung, ein möglichst unauffälliges Fluchtfenster in die Fassade zu integrieren.

Das Fluchtfenster im nach außen geöffneten Zustand
Zweiter Rettungsweg über Giebelfenster
Im nächsten Beispiel sind noch alte einfachverglaste Fenster vorhanden und das Giebelfenster ist ein zweiter Rettungsweg mit einer historischen, kreativen Lösung.

Wieviele Fenster sehen Sie links oben?
Bei geöffnetem Flügel ist gut zu erkennen, dass der gemauerte Pfosten nur eine Attrappe ist.
Fluchtfenster im Fachwerkhaus
Im letzten Beispiel, der rekonstruierten „Goldenen Waage in Frankfurt“ musste im Dachbereich ebenfalls ein zweiter Rettungsweg geschaffen werden. Da die historisch vorgegebene, barocke Fensterteilung für eine Fluchtfensteröffnung zu kleinformatig ist, musste eine Sonderlösung geschaffen werden.

Vergrößerung der Fensteranlage vom Zwerchhaus (Gaube mit Schmuckgiebel). Augenscheinlich handelt es sich um zwei Kreuzstockfenster mit je vier zu öffnenden Flügeln.

Erst bei weiterer Vergrößerung zu erkennen: Der zwischen den Fenstern eingesetzte Balken ist nur eine Attrappe und nicht konstruktiv. Tatsächlich handelt bei dieser Anlage um ein zweiflügeliges Stulpfenster, bei dem die Schlagleiste eine extreme Sonderbreite hat und optisch wie ein Fachwerkbalken wirkt. Die Teilung innerhalb der beiden Fenster ist ebenfalls nicht konstruktiv sondern nur augesetzt (siehe Schnittzeichnung unten). Das Gesamtergebnis ist sehr gut und als Rettungsfenster selbst von Fachleuten nicht zu erkennen.

Konstruktionszeichnung Fluchtfenster Fachwerkhaus Goldene Waage
Weitere nützliche Informationen zum Thema Brandschutz und Rettungswege im Baudenkmal finden Sie auf der Website der Vereinigung der Landesdenkmalpfleger.